The New Sh*t - Essays und Artikel 

Genauso wie der Rest der Welt mit Zugang zu Medien, werde ich täglich mit Neuem konfrontiert. Über das eine Thema habe ich kaum nachgedacht, schon kommt das nächste. Über die Welt, die Politik, die Gesellschaft lese ich viel. Vieles ist meiner Meinung nach kaum einen Diskurs wert, anderes erhält kaum Beachtung. Über die Dinge, die mich, meine Freunde und Bekannten bewegen, über die wir diskutieren, die uns aufregen, inspirieren, wachrütteln, bewegen und weiterdenken lassen, schreibe ich. Ich erfinde das Rad nicht neu, aber ich will mit- und weiterdenken, gewisse Dinge nicht unkommentiert lassen und meine Gedanken ordnen. Artikel auf die ich mich beziehe, gebe ich immer an. Ich schreibe als Mensch, der sich gerne im Diskurs befindet, ungern als Expertin und hoffentlich immer mit der Zeit und dem Geist.

 

11 JAHRE 2034

Ein Mann tötet seine Frau und es wird eine Haftstrafe von 11 Jahren verhängt.
Im letzten Jahr tötete ein Mann seine Ehefrau aus übersteigerter Eifersucht, heißt es in den
Nachrichten. Einen tatsächlichen Grund zur Eifersucht soll es nicht gegeben haben. Verurteilt 1
wurde der Täter letztlich wegen Mordes und nicht nicht wegen Totschlags, wie die Verteidigung
gefordert hatte. Der Unterschied zwischen Mord und Totschlag besteht in den gesetzlichen
Mordmerkmalen, beispielsweise Habgier oder Heimtücke aber auch, wenn die Tat grausam oder
mit gemeingefährlichen Mitteln verübt wurde. Diese Mordmerkmale haben noch je eigene
juristische Definitionen, die an dieser Stelle aber außer Acht bleiben sollen.
Ich höre vom Prozessauftakt morgens im Bad im Radio. Unfreiwillig. Unfreiwillig höre ich davon
auch als Juristin ebenso wie als Theologin. Aber vor allem höre ich diese Nachricht als Frau. Die
Ehefrau war Mutter dreier Kinder, die damit aufwachsen müssen, dass ihr Vater ihre Mutter
erstochen hat. Elf Jahre. Mord als Straftat heißt eigentlich lebenslänglich. Lebenslänglich steht
sogar noch vor dem Tatbestand selbst. Elf Jahre und Mord? Elf Jahre dafür, dass der Mann seine
Ehefrau und Mutter dreier Kinder mit einem Küchenmesser mit mehr als 30 Messerstichen
ermordet hat. Als Juristin kann ich den Fall hier nicht auseinandernehmen, ich kenne ihn nur aus
den Nachrichten und mir fehlen viele Informationen. Eine juristische Be- und Verurteilung hat
stattgefunden, Details kenne ich nicht. Ich beurteile nur das, was mir bekannt ist. Der Alkohol- und
Drogenkonsum des Täters soll sich strafmildernd ausgewirkt haben, heißt es in den Nachrichten.
Das muss erheblich gewesen sein, denn lebenslänglich und 11 Jahre sind ein gewaltiger
Unterschied. Nach der Tat machte der Täter Fotos seiner Ehefrau und schickte diese an
Verwandte. Das lässt natürlich die Frage aufkommen, wie betrunken war der Täter, wenn ihm das
gelang?
Als Mensch stelle ich mir dazu folgende Fragen:
Warum wird Alkohol als strafmildernd in diesem Maße berücksichtigt? Der Grund warum wir alle
Alkohol trinken ist, dass Alkohol enthemmt, ganz klar. Wir können soziale Grenzen sprengen,
eigene Grenzen vergessen. Alkohol beeinträchtigt die Wahrnehmung. Alles scheint etwas anders,
man traut sich mehr zu. Merkwürdig an der rechtlichen Bewertung ist aber, dass man nicht
betrunken Auto fahren darf. Aber man darf betrunken sein. Man mordet betrunken und es wird zu
Gunsten des Täters gewertet. Straftäter werden also quasi „privilegiert“. Auf dieses Paradox habe
ich auch als Juristin keine befriedigende Antwort erhalten. In einem Seminar zur Rechtsmedizin
meldete der Rechtsmediziner auch Zweifel an der Strafmilderung durch Alkohol an.
Gewohnheitstrinker seien trotz hohem Blutalkoholgehalt noch zu komplexen Aufgaben in der Lage.
Viele Alkoholiker seien auch erst durch Alkohol zu irgendetwas in der Lage und in vielen Fällen

besser als im nüchternen Zustand. Die Frage ist daher, ob ein alkoholisierter Zustand wirklich noch
als strafmildernd Berücksichtigung finden darf.
Warum wird ein enormes Gewese um die Legalisierung von Hanf gemacht, Alkohol kann aber
ohne Probleme überall erworben werden? Kinder wachsen damit auf, dass Alkohol etwas völlig
Normales ist, gesellschaftlich akzeptiert und teilweise erwartet. Erwachsene trinken bei vielen
Gelegenheiten Alkohol. Kaum eine Familienfeier, kaum irgendeine Feier ohne Alkohol. Völliger
Irrsinn, wenn man darüber nachdenkt, was unter Alkoholeinfluss passiert. Die Gesellschaft sagt
uns, dass es normaler sei zu trinken, als abstinent zu sein. Wer das anzweifeln mag, sage mal bei
der nächsten Familienfeier laut und vernehmlich, dass er nie wieder trinke. Die Reaktionen würden
mich interessieren.
Ein zweiter Gedanke ist natürlich der, dass Alkohol Opfer-Täter-Verhältnisse leicht umkehrt,
beziehungsweise werden sie verkehrt. Denn wohl kaum niemand zwingt einen Täter dazu, Alkohol
zu trinken. Möglicherweise trinkt der Täter auch aus genau diesem Grund, weil er um die
enthemmende Wirkung des Alkohols weiß oder aber um seine strafmildernden Folgen. Die 2
Grenzen von aktiv und passiv verschwimmen.
Als Frau denke ich aber auch darüber nach, dass die meisten Straftaten an Frauen auch
Beziehungstaten sind. Ehefrauen haben keine Lobby, Alkohol offensichtlich schon. Die Ehefrau
hätte ihren Mann verlassen können, Hilfe suchen, derer gibt es ja so viel. Aber Alkohol? Den kann
man nicht verbieten, der gehört dazu. Der Täter? Er war nicht Herr seiner Sinne.
Als Frau bin ich besonders bestürzt. Jeder Mord ist furchtbar, ohne Frage. Aber Beziehungstaten?
Ich bin der Meinung, dass hier bestimmte Sachverhalte nicht einfach unter allgemeine
Straftatbestände subsumiert werden können. In Beziehungen werden bestimmte
Vertrauensverhältnisse ausgenutzt, Hierarchien ausgenutzt, Ansprüche ausgenutzt. Kinder erleben
Gewalt und lernen Gewalt und Hierarchien als Normalität. Die Spirale geht weiter.
Für meine Examensarbeit in der Theologie habe ich mich mit der rechtlichen Stellung von Tieren
beschäftigt. Es geht hierbei auch nicht darum, das Tierschutzgesetz (das leider zur Farce
verkommt) und das Strafgesetz zu vergleichen oder aber diese Tat zu relativieren oder zu
vergleichen. Allerdings legt diese Thematik ein großes Paradox offen, dass sich auch hier deutlich
zeigt: Strafbarkeit und Strafverfolgung sind nicht gerecht, sondern entscheidend ist, auf welcher
Seite man steht, wo man geboren ist und welche Bedeutung man gesellschaftlich hat und darauf
hat das Subjekt in den meisten Fällen keinen Einfluss. Ein junge Juristin stellte nämlich fest, dass
es Tiere und Tiere gibt. Zwar existiert ein Tierschutzgesetz, wenn es aber um sogenannte Nutztiere
geht, scheint es völlig obsolet zu sein. Das bedeutet grobe Verstöße gegen das Tierschutzgesetz
werden trotz Anzeigen nicht verfolgt. Auch in diesem Bereich klafft eine gewaltige Lücke zwischen
Strafbarkeit und tatsächlicher Strafverfolgung. Beziehungstaten scheinen Sache der Frau,

der Familie zu sein. Die Verfolgung dieser Taten höchst zweifelhaft. Die beschriebene Tat fand in
einem Asylbewerberheim statt. Die Ehefrau war also in vielerlei Hinsicht schutzbedürftig, als Frau,
als Asylbewerberin, als Mutter. Der Ehemann wird als eifersüchtig beschrieben. Ein
Ungleichgewicht wird bestanden haben und sicher auch nicht unbemerkt geblieben sein. „Alle drei
Tage“ heißt ein 2021 für den Sachbuchpreis nominiertes Buch von Laura Backes und Margherita
Bettoni. Alle drei Tage tötet ein Mann seine Partnerin in Deutschland. Dabei kritisieren die 3
Autorinnen, dass Femizide, also Morde an Frauen, in der Außendarstellung wie furchtbare
Einzelschicksale dargestellt werden, tragisch aber keinesfalls wie ein strukturelles Problem. Und
da liegt bereits das Problem.
Diese Straftat zeigt viele offene Wunden in unserer Justiz, in Rechtsprechung und Strafverfolgung,
in unserer Politik, unserer Gesellschaft, in Bezug auf Chancengleichheit, Schutzräume, Integration,
Feminismus und fragwürdige Privilegierungen. Fragen müssen deutlicher, lauter und vehementer
gestellt werden. In den Nachrichten darf über solche Taten nicht weiter so neutral berichtet werden,
so als wäre es nicht ein Problem über das gesprochen werden muss. Alle drei Tage, das ist
alarmierend, das ist bestürzend und schwer auszuhalten. Alle drei Tage werden Töchter, Mütter,
Schwestern und Cousinen, Partnerinnen, Ex-Partnerinnen und Ehefrauen getötet, eine Lücke in
viele Leben gerissen, Angst gesät, die von außen oft bagatellisiert wird. Alle drei Tage, wird Frauen
nicht zugehört, wird an andere verwiesen, werden Zuständigkeiten verneint und die Hände
gehoben. Alle drei Tage wird eine Familie zerstört, wird eine Spirale von Gewalt und Tod
weitergegeben. Alle drei Tage geschieht sowas. Und dafür nur 11 Jahre???? Ernsthaft
Deutschland?

Text: Isa Roese 14.04.2023


1 Quelle NDR M-V, nachzulesen unter: https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/ 1
Frau-in-Barth-erstochen-Elf-Jahre-Haft-fuer-Ehemann,barthprozess100.html (abgerufen am
12.04.2023).

2 Auf das juristische Konstrukt der actio libera in causa wird in diesem Artikel nicht näher 
eingegangen, wurde aber mit bedacht.

3 Nachzulesen bei NDR Kultur unter https://www.ndr.de/kultur/sachbuchpreis/Alle-drei-Tage- 3
Sachbuch-ueber-Femizid-von-Backes-und-Bettoni,dreitage116.html (abgerufen am 14.04.2023.


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Kommentare

VK
Vor einem Jahr

Mich hat die Betrachtung zum Mord in Barth sehr
nachdenklich gemacht und ich teile die Ansicht!
Sehr gut auf den Punkt gebracht! Deutschland ist das gerecht???